Revolution und Gegenrevolution

Von den deutschen Thronen stürzte der bayerische zuerst. Kurt Eisner, Journalist bei der sozialdemokratischen „Münchner Post" und Spitzenkandidat der USPD (Unabhängige Sozialdemokratische Partei) für die anstehende Reichstagsnachwahl, hatte schon im Wahlkampf des Monats Oktober angekündigt, statt einer Wahl werde die Revolution kommen. Am 7. November 1918 veranstalteten die beiden sozialistischen Parteien (MSPD, d.h. Mehrheits-Sozialdemokratische Partei und USPD) eine Versammlung auf der Theresienwiese in München. Gemeinsam beschloß man die Forderung nach sofortigem Waffenstillstand und der Abdankung des Kaisers. Dann trennten sich die Wege. Während Erhard Auer, der führende Mann der bayerischen MSPD, seine Anhänger entsprechend der polizeilichen Genehmigung zur Schlußkundgebung am Friedensengel und zur friedlichen Auflösung führte, marschierten Eisners Demonstranten mit dem Ruf nach Revolution ins Kasernengelände. Die Truppen schlossen sich Eisner an. Waffen und Vorratslager fielen in seine Hand. Am Abend trat im Mathäserbräu ein provisorischer Arbeiter- und Soldatenrat zusammen und wählte Eisner zu seinem Vorsitzenden. Kurz vor Mitternacht erklärte er sich im Landtag zum provisorischen Ministerpräsidenten. „Baiern" wurde zum Freistaat. „Die Weltrevolution marschiert", hieß der zentrale Satz der Proklamation. König Ludwig III. floh während der Nacht zunächst nach Wildenwart am Chiemsee, dann, angesichts der Unruhen in Rosenheim, weiter auf Jagdschloß Anif bei Salzburg. Am 13. November entband er Beamte und Militär von ihrem Treueid.
Im ganzen Reich entstanden mit dem Umsturz der zweiten Novemberwoche dieselben Fragen: Würden es die Träger der Revolution, lockere und spontan zusammengetretene Gruppen von Arbeitern und Soldaten (in geringerem Umfang auch Bauern), die ihrem Selbstverständnis nach in der utopisch-sozialistischen Tradition standen und sich in Anlehnung an die russische Revolutionspraxis von 1905 und 1917 Räte (russisch: Sowjets) nannten, erzwingen wollen, die Regierungsgewalt zu behalten oder würden sie den Weg frei geben für allgemeine Wahlen, und damit die bürgerlichen Parteien als Teilhaber und Konkurrenten an der Macht akzeptieren?
Die sozialdemokratische Führerschaft strebte berechenbare Reformen in einem republikanisch verfaßten Gemeinwesen an. Von Friedrich Ebert ist aus den kritischen Novembertagen überliefert, gesagt zu haben, er hasse die Revolution wie die Sünde. Auer setzte ebenfalls auf die bereits erreichte Parlamentarisierung der Staatsgewalt und lehnte eine revolutionäre Entwicklung ab. Vor allem war die Führung der Sozialdemokratie durch Putsch und Terror der Bolschewisten in Rußland gewarnt. Die MSPD hatte jedoch die Massenbasis ihrer Wähler und Anhänger wie USPD und KPD hauptsächlich in der Arbeiterschaft. Der Agitation der Linken, den Sozialismus mit einer umfassenden Sozialisierung durchzusetzen, konnten sie sich nicht entziehen. Heimstätte der neuen sozialistischen Gesellschaft sollte die Räterepublik sein. Mit diesem Zauberwort wähnten alle, die sich zum Proletariat rechneten, Kriegsleiden, Hunger und Arbeitslosigkeit heilen zu können. In der aufgeputschten, chaotischen, emotionsgeladenen Situation der Städte waren die Massen für den politischen Aberglauben anfällig.
Die russische Oktoberrevolution vor Augen und orientiert am Vorbild Lenins, machte im Januar 1919 der kommunistische Spartakusbund in Berlin den erfolglosen Versuch, die sozialdemokratisch geleitete provisorische Reichsregierung mit Waffengewalt zu stürzen. In Bayern löste die Ermordung Kurt Eisners am 21. Februar 1919 einen weiteren revolutionären Schub aus. Auer war am selben Tag im Landtag niedergeschossen worden und fiel für die nächsten Monate als politisch mäßigende Kraft aus. Nach mehrtägigem Generalstreik in München proklamierten die radikaleren sozialistischen Kräfte einen Zentralrat der bayerischen Republik. Am 21. März gelang dem im Januar gewählten Landtag trotzdem die Bildung eines neuen Kabinetts unter dem Ministerpräsidenten Johannes Hoffmann (MSPD). Dessen Ausschaltung war das Werk der „dritten Revolution". Hinter ihr stand die USPD.
So kam es in München endlich zur Ausrufung der Räterepublik, die die Gegner von weiter links jedoch „Scheinräterepublik" nannten. Sie regierte durch Volksbeauftragte. Die legale Regierung floh nach Bamberg.
Die „vierte Revolution" machten am 13. April die Kommunisten. In ihrer Räterepublik nahm das Vorgehen gegen das Bürgertum schärfere Formen an. Man stellte eine Rote Armee auf, Geiseln wurden genommen. Die Regierung Hoffmann verfügte über allzu wenig Bewaffnete. Deshalb rief sie auswärtige Hilfe herbei. Ende April wurde München von bayerischen, württembergischen und preußischen Truppen eingeschlossen.
In Rosenheim war man über das Münchner Geschehen gut informiert; denn bereits am 7. November abends fanden im Sterngarten „wichtige Sitzungen" des Gewerkschaftsvereins, des sozialdemokratischen- und des Bürgerrechts-Vereins statt. Dem Münchner Vorbild folgend, führte die Rosenheimer Parteileitung der MSPD am 8. November eine Großversammlung auf der Loretowiese durch, der ein Umzug durch die Stadt folgte. Mehr als tausend Menschen demonstrierten vor dem Rathaus und dem Amtsgericht und forderten die Freilassung der Gefangenen und die Unterstellung der Polizei unter den zuvor gebildeten Volks- und Soldatenrat. Vorsitzender des Arbeiterrats war der Arbeitersekretär Karl Göpfert, Vorsitzender des Soldatenrats der 22jährige Student Guido Kopp. Er stammte aus der Passauer Gegend und war als Gefreiter in der Rosenheimer Garnison stationiert. Die Räte richteten sich im Rathaus eine Geschäftsstelle ein und hielten täglich im kleinen Sitzungssaal Versammlungen ab. Der weiter amtierende Rosenheimer Stadtmagistrat versuchte sich mit der „Nebenregierung" zu arrangieren. Bürgermeister Hofrat Wüst mag mit Zustimmung im Bayerischen Staatsanzeiger die Richtlinien der Staatsregierung gelesen haben: „Die Arbeiterräte sollen nicht nach dem Muster des bürgerlichen Parlamentarismus Pflanzschulen persönlicher Eitelkeit, Strebereien und Geschäftemacherei sein, auch nicht dem Redebedürfnis des einzelnen dienen, sondern sie sollen zum schaffenden Dienst an der Gesamtheit dienen." Der Stadtverwaltung paßte es nicht, daß diese Körperschaft „überall hineinregieren will, ohne Rücksicht auf bestehende Gesetze und Verordnungen".
Am 10. Januar 1919 wurde in Rosenheim eine Ortsgruppe der kommunistischen Partei gegründet. Ihr Mitglied Kopp war das Haupt der kommenden Radikalisierung. Als eifriger Agitator und guter Redner wird er in den Gerichtsakten bezeichnet. Der Eisner-Mord gab das Signal: Kopp erwirkte am 22. Februar spektakulär die Absetzung des 1. Bürgermeisters. Karl Göpfert führte die Geschäfte weiter, Heinrich Geistaller wurde Stadtkommandant. Am 7. April rief Kopp die Räterepublik aus und erklärte den Belagerungszustand. Bürgertum und Monarchie waren vom Umsturz zwar nicht völlig überrascht worden, zu einem Akt der Gegenwehr jedoch nicht fähig noch willens. Daß die Berliner Reichsregierung im Frühjahr 1919 ihre Existenz gegen den Aufstand von links („Berliner Blutwoche", März 1919) nur mit Hilfe der Offiziere der kaiserlichen Obersten Heeresleitung und der von ihnen organisierten Freikorps sichern konnte, war die Voraussetzung dafür, daß die Kritiker der Revolution mit im Spiel blieben. In München regte bereits im Dezember der Kommerzienrat Zenz die Bildung eines „Ordnungsbundes der Münchner Bürger" an. In Rosenheim war es der Leiter des Vermessungsamtes, Obergeometer Rudolf Kanzler, der sich als Organisator der Revolutionsgegner einen weit über die Region hinaus reichenden Namen gemacht hat. Wie er selbst schreibt, sammelte er bereits im Dezember 1918 „eine Schar mutiger und entschlossener Männer von Rosenheim und Umgebung" , darunter den Kaufmann Förg und den Messerschmiedmeister Marey. Nach der Ausrufung der Räterepublik in Rosenheim und dem Vorgehen der „Republikanischen Schutztruppe" gegen die „Scheinräterepublik" in München, dem sogenannten „Palmsonntagsputsch", erfolgte auch in Rosenheim der Gegenschlag. Verantwortlich waren Rudolf Kanzler und, wie dieser 1931 in seinem Erinnerungsbuch ausdrücklich betont, der Führer der Rosenheimer Mehrheitssozialisten, Karl Göpfert. Sie stürmten den Bräu am Anger und nahmen Kopp und andere fest.
Wie in München, so scheiterte das Unternehmen auch in Rosenheim: Aus der Hauptstadt kamen am 14. April über hundert Angehörige des Infanterie-Leib-Regiments mit dem Zug an und befreiten die in Bedrängnis geratenen Räteführer. Kanzler und seine Freunde mußten fliehen. Ersterer begab sich nach Bamberg zur Regierung Hoffmann und erhielt Generalvollmacht zur Aufstellung eines Freikorps.
Hatten die Revolutionsunruhen beim Bürgertum und den Honoratioren, kurz bei all denen, die bisher das Sagen hatten, bereits Gefühle der Machtlosigkeit und der Bedrohung an Leib und Leben erzeugt, so prägten die Repressalien der radikalen Linken, vor allem die spontane „Sozialisierung", die nichts anderes war als eine massive Verletzung des Eigentumsrechtes, die politische Einstellung von Geschäftsleuten, selbständigen Handwerkern und allen anderen, die etwas zu verlieren hatten, auf Dauer. Die Schadensersatzforderungen, die, nachdem alles vorbei war, an die Stadt Rosenheim gerichtet und nur zum geringsten Teil befriedigt wurden, reichten von den Ansprüchen einer Baderswitwe aus Griesstätt, deren Mann während der Fahrt des Freikorps Wasserburg auf einem Lastwagen von Kugeln getroffen wurde, bis zu unbezahlten Rechnungen für Benzol. Bis Juli 1919 hatte die Rosenheimer Finanzkommission über Schadensforderungen von 133 Personen in Höhe von 160.000,- Mark zu befinden. Unter Zechprellerei liefen die Essens- und Mietschulden der Kommandanten Kopp und Rheinheimer. Ein Verzeichnis weist einzuhebende „Kontributsgelder" bei ca. 100 namentlich aufgeführten Personen entsprechend der Einkommenssteuerliste in Höhe von 325.000,- Mark auf. Spätere Übergriffe der Sieger werden dadurch nicht gerechtfertigt, jedoch verständlicher.
Die Rückeroberung Rosenheims nahm in Straubing ihren Anfang. Die Gesamtoperation verschiedener Einzeltrupps, darunter Kanzlers Freikorps Chiemgau, leitete der Oberst von Mieg. Nach der Einnahme des Eisenbahnknotenpunkts Mühldorf war Rosenheim bis zum 1. Mai eingekreist. Da sich in den letzten Apriltagen die Rätestreitkräfte nach Kolbermoor zurückgezogen hatten, ließ sich Rosenheim ohne größeren Widerstand zurückerobern.
 

Dr. Raimund Baumgärtner