Das Hochwasser 1940

„Im Frühsommer 1940 kam der Inn nochmals mit all seinen Fließgewässern in die Talaue am Fuße des Hofbräukellers zurück, die er vor urdenklichen Zeiten geschaffen und jahrtausendelang beherrscht hatte. Für mich, der ich damals beim Lehrer Josef Noll gerade die ersten kenntnisreichen Einführungen in Heimatkunde erhalten hatte, inspizierte der Inn mit seinen neugierigen Wellen die Standfestigkeit des Elternhauses, das in der Widerstraße 9 nahe der Einmündung des Herderbachs in den Ledererbach wohlüberlegt auf einer Kiesinsel und mit entschiedenem Hochparterre errichtet worden war. Langsam, aber sicher waren die längst angeschwollenen Bäche über ihre Ufer getreten, so daß die immer mehr sich zusammenschließende Wasserfläche die Reliefunterschiede unseres Elfhäuserviertels eindrucksvoll vor Augen führte. Der staunende Bub konnte am Überschwemmungszustand der Nachbarhäuser die väterliche Vorsorge beim eigenen Hausbau tagelang ablesen und hatte für immer eine stark nachwirkende Vorstellung davon, was geschieht, wenn menschliches Damm- und Grabenwerk der Urgewalt eines Alpenflusses unterliegt. Bis heute blieb davon über die längst wieder Land-, ja nur mehr Überschwemmungsmulde gewordenen Innauen hinweg die starke Beziehung zu dem Lebewesen Fluß, der immer noch, Unser Inn' heißt."1)

Alljährlich führen Inn und Mangfall zur Zeit der Schneeschmelze in den Bergen, etwa Mitte Mai bis Anfang Juni, Hochwasser. Heftige Regen-fälle ließen die beiden Flüsse Ende Mai 1940 zusätzlich anschwellen, so daß Rosenheim am 30., 31. Mai und 1. Juni 1940 von einer schweren Hochwasserkatastrophe überrascht wurde. Am 30. Mai hatte der Inn bei Rosenheim um 7 Uhr einen Wasserstand von 3,10 m, um 16 Uhr bereits von 4,27 m. Am selben Tag wurden an der Mangfall in Schwaig um 8 Uhr noch 1,65 m gemessen, um 16 Uhr dann 2,16 m. Von diesem Zeitpunkt an stand das Straßen- und Flußbauamt in der Innlände bereits unter Wasser. Erst am 1. Juni konnte wieder eine Verbindung hergestellt werden. An diesem Tag erreichte die Mangfall 2,49 m. Hatte der Inn am Abend des 1. Juni noch einen Pegelstand von 3,90 m, so war am Morgen des 2. Juni ein Absinken auf 3,13 m zu beobachten.2)
Von der großen Gefährdung der Stadt und der näheren Umgebung von Rosenheim kündet ein Bericht der örtlichen Schutzpolizei vom 6. Juni 1940. Streifen der Schutzpolizei überwachten das Ufergebiet von Inn und Mangfall im Stadtbereich. Bei der Mangfallbrücke an der Innstraße, der damaligen Adolf-Hitler-Straße, wurde eine Brückenwache eingerichtet. Unter großen Anstrengungen gelang es Arbeitern des Stadtbauamtes, „das angeschwemmte Material, zum Teil aus Bäumen, Gartenhäuschen, Bauhütten und Schuppen bestehend, durch die Brücke zu bringen." Am Abend des 30. Mai konnte ein Dammbruch der Mangfall nahe dem Anwesen Grundner, Schopperstraße 2, durch Auflegen von großen Bruchsteinen noch verhindert werden. Am 31. Mai waren fünf Dammbrüche an der Mangfall zu verzeichnen. So wurde der Damm an der Mangfallkrümmung in Oberwöhr gegenüber dem städtischen Elektrizitätswerk in einer Länge von 100 Metern weggeschwemmt. Machtlos war man auch, als beim Betonwerk Bernrieder der Mangfalldamm brach und das gesamte Werk überflutet wurde.
Besonders schlimm wirkte sich der Dammbruch am rechtsseitigen Mangfallufer unweit der Eisenbahnbrücke aus, denn dadurch wurde der Landstrich bis zur Kastenau überschwemmt. Der Kontakt mit diesem Wohnviertel, überwiegend eine „SA- und Kinderreichen-siedlung",3) riß zunächst ab, bis dann mit Hilfe eines Nachens den Bewohnern die notwendigsten Lebensmittel, hauptsächlich Milch für die Kinder, zugeführt werden konnten. Die Kastenau stand teilweise bis zu zwei Meter unter Wasser. Da es am 1. Juni wieder stark regnete, mußte man für einen Teil der etwa 1200 Einwohner Notquartiere in der Stadt schaffen, so beispielsweise in der Mädchenschule Heilig-Geist-Straße. Aus einem Bericht des damaligen Kreisleiters Ziehnert geht hervor, daß die Einrichtungsgegenstände „nahezu 100%ig vernichtet", die Gemüsegärten „total verwüstet", viele Haustiere ertrunken waren.4) Meterhoch überschwemmt war auch das Gebiet zwischen der Mangfall- und Innbrücke, so daß „der Verkehr mit den dortigen Bewohnern nur mehr durch ein Motorboot und eine Abteilung Pioniere" durchgeführt werden konnte. Die Situation verschlimmerte sich, als bei der Gastwirtschaft Pruttin-gerhof in einer Länge von zehn Metern der Mangfalldamm brach. Kurz darauf hielt auch der linksseitige Damm dem Druck nicht mehr stand; große Wassermassen fluteten in die Stadt, wobei vor allem die Molkerei Gervais („der ganze Betrieb mit den modernsten Maschinen 2 Tage unter Wasser"5)), die großen Lebensmittellager der BayWa („rund 1000 Zentner Reis, für die Wehrmacht bestimmt, zu einem Drittel unter Wasser"6)) und das städtische Gaswerk an der Färberstraße besonders stark betroffen waren.
Der Leiter der Rosenheimer Schutzpolizei, Schilcher, hatte seinem Bericht an den Oberbürgermeister einen Stadtplan beigefügt und darin das überschwemmte Gebiet gekennzeichnet. Demnach war vor allem der Südosten des Stadtbereichs in Mitleidenschaft gezogen. Im Norden reichte das Wasser über die Stadtgrenze hinter der Kläranlage hinaus, die Ebersbergerstraße bildete eine Grenze nach Westen. Im Süden war das Gebiet um Oberwöhr in Gefahr; etwa 40 Personen mußten aus dem Wohnviertel Ruedorfferau ausquartiert und im katholischen Gesellenhaus untergebracht werden. Aufnahmen aus diesen ungewöhnlichen Tagen, in denen das Hochwasser Hab und Gut vieler Menschen vernichtete, zeigen anschaulich, wie der Verkehr im Altstadtbereich des Ludwigsplatzes, des Färberviertels und der Innstraße nur mehr mit Booten möglich war.
Laut einer für das Staatsministe-rium des Innern erstellten Übersicht betrug allein die Gesamtzahl der hochwassergeschädigten Familien bzw. Wohnungsinhaber 1208.7) Ohne staatliche Unterstützung konnten die großen Schäden nicht bewältigt werden. Die Bevölkerung war daher verständlicherweise sehr verbittert, als die erbetene Hilfe von den zuständigen Staatsstellen ausblieb. Das Protokoll über die Beratung des Stadtrates vom 26. Februar 1941 hält in sehr aufschlußreicher Weise fest: „Eine ausreichende Unterstützungsaktion sei gerade im nationalsozialistischen Staat für selbstverständlich gehalten worden, da es sich doch bei dem Eintreten für die durch Naturkatastrophen geschädigten Volksgenossen um praktischen Nationalsozialismus handle. Es sei unerklärlich, daß die eigenen Volksgenossen bei solchen Katastrophen nicht auf wirksame staatliche Hilfe rechnen dürften [...]."8) Um so schlimmer war es für die Menschen in Rosenheim, daß wenige Jahre später, 1946, durch eine erneute Hochwasserkatastrophe wieder große Teile des Stadtbereichs überflutet und die ohnehin notwendigen Aufbauarbeiten nach Kriegsende zusätzlich erschwert wurden.

Manuela Schön

Anmerkungen:

1) „Der Inn kommt zurück". Eine Erinnerung von Hans Ziegler vom 7.2.1989.
2) StARo, Altregistratur VI F 1 - 228, Bericht der Schutzpolizeidienstabteilung Rosenheim an den Oberbürgermeister vom 6. Juni 1940. Die Darstellung stützt sich, falls nicht anders vermerkt, auf diesen Bericht.
3) StARo, Altregistratur VI F 1 - 228, Bericht des Kreisleiters der NSDAP über die Hochwasserkatastrophe in Rosenheim vom 4.6.1940
4) Ebenda.
5) Ebenda.
6) Ebenda.
7) StARo, Altregistratur VI F 1 - 228, Bericht des Oberbürgermeisters der Stadt Rosenheim, Gmelch, an das Staatsministerium des Innern vom 25. 7.1940.
8) StARo, B/C Protokolle 375: Niederschrift über die 1. Beratung der Ratsherren des Stadtkreises Rosenheim vom 26. 2. 1941, Nr. 14.