Der "Nachlaß Simson" im Stadtarchiv

1962 wurde der Nachlaß des Photoateliers Simson dem Stadtarchiv schenkungsweise überlassen. Er umfaßte damals ca. 200.000 Photoplatten, deren Inhalt über Geschäftsjournale (Register, die wahrscheinlich die üblichen Daten wie Nummer, Name des Photobestellers, Datum und Preis enthielten) erschlossen werden konnte. Leider haben sich diese Registerbücher nicht erhalten. Durch sie wäre die Bearbeitung der Platten, von denen jede mit Nummer und Nachnamen des Bestellers beschriftet ist, wesentlich erleichtert worden.

Die Bezeichnung "Nachlaß Simson" wurde bewußt gewählt, da es sich bei dem Photoplattenbestand im Stadtarchiv nicht nur um die Arbeit von Franz Xaver Simson, sondern ebenso um die seines Sohnes Hermann, später dann auch teilweise die seiner Enkeltochter gehandelt hat. Der Hauptteil des Bestandes stammt allerdings von Franz Xaver Simson selbst, der bis Ende der 1930er Jahre noch photographische Aufnahmen machte. Bis zu seinem Tod 1944 war er dann vor allem mit Retouchierarbeiten, die auch zu Hause erledigt werden konnten, beschäftigt. 1939 übergab er das Geschäft an seinen Sohn Hermann, den er allerdings um ein Jahr überlebte. Hermann verstarb bereits 1943. Dessen Tochter war ab 1945 dann im Atelier tätig, wobei der Hauptteil der photographischen Arbeiten ab 1943/44 von angestellten Photographen erledigt wurde. 1953 wurde das Atelier dann endgültig an einen Photographenmeister verpachtet. So stammt etwa ein Fünftel des Platten bestandes nicht von Franz Xaver Simson selbst, wurde aber im Simson'schen Atelier gefertigt und gelangte in seiner Gesamtheit ins Stadtarchiv. Es wird eine der nächsten Aufgaben sein, den Bestand soweit zu bearbeiten, daß eine Beurteilung, welche Platten von Franz Xaver Simson stammen und welche nicht, möglich sein wird. Hilfreich ist dabei die Originalnumerierung der Platten mit einer fünfstelligen Registernummer (ursprünglich als  Hinweis auf die gleiche Nummer im Geschäftsjournal). Da die Nummernvergabe chronologisch aufsteigend geschah, kann ein zeitliches Einordnen der Platten erfolgen. Niedrige Nummern haben die frühen Platten, hohe Nummern sind ein Zeichen für jüngere Aufnahmen, wobei nicht vergessen werden darf, daß Simson auch Nachphotographien getätigt hat. Aus der Registernummer läßt sich also nicht auf das inhaltliche Alter der Aufnahme schließen, sondern nur eine Aussage treffen; wann die Aufnahme oder die Nachphotographie gemacht wurde. Nach dem aktiven Ausscheiden von Franz Xaver Simson aus dem Atelier wurde diese chronologische Nummernvergabe aufgegeben und mit einer Neunumerierung begonnen. Mit ein Grund dafür war, daß Franz Xaver Simson in seiner Numerierung bereits bei 90.000 angekommen war, sechsstellige Nummern wären sicher zu kompliziert geworden. So stellte man das System um und begann mit neuen Nummern, die diesmal auch drei- oder vierstellig waren. Etwas problematisch ist diese neue Nummernvergabe bei der Bearbeitung des Bestands, wo zunächst die alten Registernummern für jede Platte beibehalten wurden. Durch die von Franz Xaver Simsons Nachfolgern eingeführten neuen Nummern ergeben sich so teilweise Doppelnumerierungen von sehr alten Aufnahmen und Photographien, die erst in den 1940er Jahren gefertigt wurden. Der Bildinhalt, meist ein Personenportrait, läßt, durch den Wechsel in Haar- und Kleidermode erkennbar, ein schlüssiges zeitliches Zuordnen der Platten allerdings zu.

Ebenso kann eine chronologische Einordnung des Gesamtbestands erfolgen, der hauptsächlich Franz Xaver Simsons "Rosenheimer Zeit" umfaßt. Nur vereinzelt finden sich auch Bamberger und - möglicherweise - Dillinger Aufnahmen im Bestand, eine genauere Auswertung und damit schlüssige Einordnung ist, da es sich ja hauptsächlich um Personenportraits handelt, noch nicht möglich. Zeitlich gesehen umspannt der Nachlaß also einen Rahmen von 1895 bis 1953, als das Atelier Simson an den Photographen Rudolph Riedel verpachtet und übergeben wurde.

Aus diesem chronologischen Rahmen fallen allerdings die Nachphotographien von Positivabzügen fremder Photographen, wie sie Franz Xaver Simson auch getätigt hat, heraus. Wenn ein Kunde einen Bildabzug einer alten Photographie haben wollte, der sie damals fertigende Photograph aber nicht mehr in Rosenheim tätig war, machte Simson eben von einem Positivabzug eine Aufnahme. Und damit weitet sich der zeitliche Rahmen des Bestands auch auf die 1870er, teilweise sogar 1860er Jahre aus, wenn gleich so frühe Bilder nur vereinzelt vorhanden sind. Erkennbar sind die Nachphotographien immer. Im günstigsten Fall wurde bei der Aufnahme der Prägestempel des Photographen im vorderen Bildrahmen mit aufgenommen, so daß klar erkennbar ist, um welchen eigentlichen Urheber es sich bei der Aufnahme handelt. Aber auch durch Kleider und Haartracht der Portraitierten, die einem früheren Modebild entsprachen, die ganz andere künstlerische Gestaltung der Photographie und nicht zuletzt die nicht zu vermeidende Unschärfe dieser Aufnahmen - in der Regel hat es sich um alte, wohl schon verblichene Photos gehandelt - lassen die Nachphotographien deutlich von Simsons Werken abstechen.

Material

Entsprechend dem Zeitraum, den der Nachlaß Simson umfaßt (1890er bis 1950er Jahre) haben hauptsächlich zwei Materialtypen Verwendung gefunden: die Bromsilbergelatine-Trockenplatte und der Cellulosenitratfilm.

Die Gelatine-Trockenplatte, 1871 von Richard L. Maddox entwickelt, ermöglichte es, maschinell produzierte, lichtempfindliche Glasplatten ohne aufwendige Vorbehandlung zu belichten und den Entwicklungsvorgang nicht gleich vornehmen zu müssen. Durch eine höhere Lichtempfindlichkeit waren auch kürzere Belichtungszeiten möglich.

Die Einführung des Cellulosenitratfilms verdrängte jedoch ab der Jahrhundertwende sehr schnell die Trockenplatte, deren Trägermaterial (Glas) sie bruchempfindlich und damit eine sehr sorgfältige Behandlung erforderlich machte. Bequemer war jedenfalls der Umgang mit dem unzerbrechlichen, biegsamen Cellulosenitratfilm, der als Rollfilm oder als Planfilm, ebenfalls im Plattenformat, angeboten wurde. Vor allem für Außenaufnahmen war die Handhabung wesentlich komfortabler, ein Aspekt, der bei Studioportraitaufnahmen weniger eine Rolle gespielt hat. Dies mag auch der Grund sein, warum im Photoatelier Simson die Gelatine-Trockenplatten bis zur Geschäftsauf- bzw. übergabe in den 1950er Jahren verwendet wurden. Dennoch hat Franz Xaver Simson auch seit etwa Mitte der 20er Jahre verstärkt mit Cellulosenitratfilmen - im Plattenformat - gearbeitet, so daß sich davon sehr viele im Nachlaß erhalten haben. Insgesamt machen diese "Nitroplatten" ca. ein Drittel des Gesamtbestandes aus. Problematisch ist dabei die Beschichtung der Platten mit dem Trägermaterial Nitrocellulose. Zum Großteil aus Zelllulosenitrat bestehend, das in seiner chemischen Zusammensetzung in etwa vergleichbar mit Schießbaumwolle ist, setzt diese Substanz brennbare, giftige Gase frei und zerstört sich und andere photographische Materialien in ihrer näheren Umgebung. Außer ihrer Materialaggressivität ist sie aber vor allem durch die leichte Entzündbarkeit (der Flammpunkt liegt bei 38' C) gefährlich; Nitrozellulosefilme verbrennen auch ohne Sauerstoff, bei Luftzufuhr sogar explosionsartig. Deshalb begann 1930 in der Herstellung von Filmmaterial die Umstellung auf den Celluloseacetatfilm, den sog. Safety- oder Sicherheitsfilm. Bis zu einem generellen Verbot 1950 wurden Nitrofilme allerdings weiter hergestellt und verwendet.

Ein Großteil der Zerstörungen des Plattenbestands ist auch auf die enthaltenen "Nitroplatten" zurückzuführen, die die Photobeschichtung der benachbarten Platten buchstäblich aufgelöst haben. Neben dem Gefahrenmoment der leichten Entzündbarkeit ist es also schon aus konservatorischen Gründen erforderlich, den Plattenbestand nach Materialtyp zu selektieren und anschließend getrennt zu lagern.

Bearbeitung

Bei der Bearbeitung des Plattenbestandes ist es deshalb auch die vordringlichste Aufgabe, die Materialtypen zu selektieren und getrennt aufzubewahren. Aus Platzgründen war 1962 der gesamte Bestand an Photoplatten im Keller des Stadtarchivs gelagert worden. Hier lagen die Platten auf 21 Holzkisten verteilt; durch die schlechten Raumklimawerte mit hoher Luftfeuchtigkeit, durch den mechanischen Druck und durch die Zersetzungsgase der Nitrocellulosefilme wurde im Laufe der Jahre etwa die Hälfte des Bestands zerstört. Bei der Bearbeitung müssen also zunächst die noch verwertbaren von den restlos zerstörten Platten und Filmen separiert, das kaputte Material als Sondermüll entsorgt werden. Platten und Filme, deren Trägerschicht nicht zerstört ist, werden zunächst vorsichtig mit einem Pinsel trockengereinigt; anschließend wird von allen verwertbaren Platten und Filmen ein Sicherungsnegativ angefertigt. Da sich die Originalplatten alle in sehr schlechtem Zustand befinden, ist diese Maßnahme nötig, um vor der langwierigen Bearbeitung so viel Platteninhalte wie möglich vor der Zersetzung zu retten.

Eine Alternative wäre die sorgfältige, komplette Restaurierung der Originalplatten gewesen, angesichts der Materialfülle von mindestens 100.000 verwertbaren Platten und Filmen allerdings würde dies einen zu großen Zeit- und Geldfaktor bedeuten. Auch ist ein rasches Sichern der Bildinhalte wegen der anhaltenden Zerstörung der Platten unbedingt notwendig. Dies wird über die Sicherungsverfilmung ermöglicht, wobei unabhängig von der Originalformatgröße das Sicherungsnegativ im DIN A 6-Format gefertigt wird. Die gängigsten Originalformate sind 9 x 12 und 13 x 18; später kommt dann auch das Paßbildformat 6 x 9 hinzu. Übergrößen kommen nur bei Glasplatten und sehr selten vor.

Das Originalmaterial wird nach der Verfilmung in säurefreie Pergamintüten eingetascht und in archivgerechten Aluminiumkoffern mit Lüftungsschlitzen in einem provisorischen Kellerdepot mit  Entfeuchtungsmöglichkeit endgelagert. Die gefertigten Sicherungsnegative können zur Erschließung der Bildinhalte nun edv-verarbeitet werden. Dabei wird ein spezielles Archivierungsbildprogramm verwendet, das durch eine Verknüpfung an die normale Archivdatenbank neben einer Datenerfassung auch die vollständige Bildeingabe und Bildverarbeitung möglich macht. Über eine Kamera wird dabei jedes Negativ in gewünschter Vergrößerung, beispielsweise Detailaufnahmen, als Positiv eingescannt (die Aufnahme als Negtiv wäre ebenfalls möglich). Zu jedem Bilddatensattz werden die wichtigsten Daten wie Bildinhalt, Name, Originalformat, Zustand und Materialtyp erfaßt. Die bereits auf dem Original angebrachte Registernummer wird zunächst übernommen, um die chronlogische Zuordnung der Platten und Filme zu gewährleisten. Wenn der Bestand in seiner Gesamtheit erfaßt ist, muß eine aufsteigende Durchnumerierung erfolgen. Außer den Register- oder Geschäftsnummern ist auf der Platte ebenfalls der Nachname des Bestellers vermerkt. Über Adreßbücher, die für Rosenheim seit 1890 existieren, aber auch über Namenslisten in Schuljahresberichten, Mitgliedslisten von Vereinen und Meldebögen lassen sich die dargestellten Personen häufig eindeutig identifizieren. Teilweise ist aber der Platten-oder Filmrand, auf dem in der Regel der Name steht, so stark zerstört, daß der Name nicht oder nicht mehr zweifelsfrei gelesen werden kann. In unsicheren Fällen werden deshalb neben der Datenerfassung des nicht eindeutig lesbaren Namens auch mögliche Namesvarianten erfaßt. Wo der Name nicht mehr lesbar ist, bleibt nur die Möglichkeit, diese Bildinhalte öffentlich zu machen, um von Nachkommen oder noch lebenden Familienangehörigen der Abgebildeten Hinweise zur Identifizierung zu erhalten.

Auch wenn diese Platten und Filme nicht eindeutig zugeordnet werden können, ist ihr dokumentarischer Wert von nicht zu unterschätzender Bedeutung.

Bedeutung des Bestands

Noch immer wird den Photographien nicht die ihrem quellenmäßigen Wert entsprechende Beachtung und damit auch wissenschaftliche Betreuung geschenkt. Erst allmählich scheinen sie als wichtige Quellen aus ihrem Schattendasein herauszufinden. So befassen sich zunehmend Archive und Museen mit der Aufarbeitung und Restaurierung ihrer Bilddokumente, die oft das einzige visuelle Gedächtnis der Vergangenheit darstellen. Grafiken und Gemälde leisten zwar auch ihren Beitrag, doch finden sich hier selten die sozialen, politischen und kulturellen Entwicklungen in dieser Komplexität dokumentiert. Der Nachlaß des Simson'schen Ateliers kann in seiner sozial- und kulturgeschichtlichen Bedeutung für Rosenheim nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Für Historiker, Kunstwissenschaftier und Volkskundler bietet er eine unerschöpfliche Quelle für Untersuchungen und Auswertungen.

So bietet er unter anderem ein Bild der sozialen Strukturen einer Kleinstadt zur Jahrhundertwende, da sich fast alle Bevölkerungsschichten, und hier wiederum Männer, Frauen, Kinder und Familien bei Franz Xaver Simson portraitieren ließen. Kulturgeschichtlich lassen sich gute Aussagen zu Haar- und Kleidermode, aber auch Uniformgeschichte und ländlicher Tracht machen. Auch über den sozialen Status können anhand der Kleidung der Portraitierten Aussagen getroffen werden. Spezielle Anlaßphotographie wie zum Beispiel Bilder zum absolvierten Schulabschluß oder zu studentischen Verbindungen geben Aufschluß über wichtige Lebensabschnitte. Aber der Photobestand enthält nicht nur Personenphotographien, sondern auch Innenaufnahmen und gibt damit Einblick in den Wohngeschmack des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts; nicht zu vergessen ist auch, daß gerade Innenaufnahmen in der Frühzeit der Photographie wegen mangelnder Beleuchtungsmöglichkeiten für den Photographen sehr selten sind.

Dies gilt auch für Innenansichten von öffentlichen Instituten und Werkhallen, die darüberhinaus von größtem Interesse für die Darstellung des öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens sind. Auf den großen Wert von alten Gebäudeaußenaufnahmen, die die baugeschichtliche Entwicklung der Stadt dokumentieren, braucht eigens nicht mehr hingewiesen werden.

Ein weiterer wichtiger Aspekt des Photobestands "Simson" ist seine Bedeutung für die Atelierphotographie der Jahrhundertwende. Ateliereinrichtungen, Hintergrundkulissen und Versatzstücke des Photographen werden im Personenportrait mit dargestellt. Der Wechsel im Modegeschmack der Zeit zeigt sich durch neue Ateliermöbel, durch andere Hintergrundgestaltung und Aufnahmetechniken. Von der gestellten, inszenierten "Wirklichkeit" geht der Wechsel hin zur möglichst natürlich wirkenden "Momentaufnahme". Auch der künstlerische Wert des Mediums Photographie darf nicht unterschätzt werden. Der Photobestand "Simson" bietet auch in dieser Hinsicht hochwertige Aufnahmen.

Ausblick

Die komplette Auswertung und Beurteilung des gesamten Bestandes kann an dieser Stelle noch gar nicht erfolgen. Bisher konnten erst ungefähr ein Drittel des Nachlasses aufgearbeitet werden, was heißt, daß diese Platten  und Filme sicherungsverfilmt, edv-erfaßt und gescannt sowie nach Archivordnungskriterien abgelegt sind. Der Zugriff ist über Registernummer und Name oder Bildinhalt jederzeit möglich. Bisherige Aussagen zum Bestand in seiner Gesamtheit sind also immer unter dem relativierenden Gesichtspunkt zu betrachten, daß noch etwa zwei Drittel der Bearbeitung und Auswertung anstehen. Die bisherigen Ergebnisse lassen auf jeden Fall den Schluß zu, daß der Nachlaß des Ateliers "Simson" für Rosenheirn eine Quelle von sozial- und kulturgeschichtlich größter Bedeutung ist.