Warum wurde NSDAP gewählt?

Was bewegte Tausende von Rosenheimern, die NSDAP, eine ihrer Tarnorganisationen (1924: Völkischer Block, 1929: Interessengemeinschaft des Kriegsopfer und Frontsoldaten) oder eine ihr in Zielen und Personen (Dr. Ernst Klein, Josef Riggauer) nahestehende „Unpolitische Bürgerliste" zu wählen? Welche Faktoren waren andererseits ausschlaggebend dafür, daß selbst bei der nur noch halbfreien Reichstagswahl vom 5. März 1933 in Rosenheim BVP, SPD und KPD jeweils klar über ihrem bayernweiten Durchschnitt blieben?

Allgemeine Voraussetzungen

Rosenheim zählte zu Beginn der dreißiger Jahre knapp 20000 Einwohner, von denen 95% katholisch waren. Ein ausgeprägter Katholizismus hatte in Rosenheim lange Tradition, bis 1934 bestand hier ein sehr aktives Katholisches Männerkasino. Das wirtschaftliche Bild der Stadt war geprägt durch Handwerk, Klein- und Mittelindustrie und Handel. Die Lage Rosenheims als Verkehrsknotenpunkt sowie die Funktion als Behörden-, Schul- und Verwaltungszentrum bedingten zusätzlich ein übertypisch mittelständisches Sozialprofil, über ein Viertel der Erwerbspersonen waren Beamte.
Bevor die Hitler massenhaft Wähler zutreibende Weltwirtschaftskrise, die 1929 einsetzte, mit ihren Auswirkungen für Rosenheim skizziert wird, müssen einige allgemeingültige Belastungsmomente für die Weimarer Republik genannt werden, weil neben spezifisch Rosenheim betreffenden Umständen auch diese reichsweiten Prädispositionen die Stimmabgabe in der Innstadt beeinflußten.
In einer Bevölkerung, die zu einem großen Teil die 1918 geschaffene Republik ablehnte oder ihr gleichgültig gegenüberstand, fand die Geschichtslüge vom „Dolchstoß in den Rücken des siegreichen Heeres" breite Aufnahme. Verantwortlich für die Weltkriegsniederlage wurden die „jüdisch-sozialistischen Novemberverbrecher" gemacht. Selbst in nicht-nationalistischen Kreisen wurde der Versailler Vertrag als schwere wirtschaftliche Belastung angesehen, und sein Kriegsschuldparagraph 231 als moralisch unzumutbar empfunden. In den Parteien der Mitte - SPD, Zentrum, DDP, DVP, BVP - gab es zwar eine Menge von Vernunftrepublikanern, aber noch keine gelernten Demokraten. Selbst Spitzenpolitikern galt der Kompromiß noch als „faul". Als am 27. März 1930 die letzte parlamentarische Regierung, eine Große Koalition unter Hermann Müller, über die Frage der Beitragserhöhung zur Arbeitslosenversicherung um ein halbes Prozent stürzte, hatte sich der Reichstag selbst ausgeschaltet. In der Weltwirtschaftskrise suchten immer mehr Wähler ihr Heil bei der NSDAP, die nicht zu Unrecht als „moderne Integrationspartei" charakterisiert worden ist, weil sie „sich unter dem Vorzeichen der Volksgemeinschaft bemühte, in ihrer Propaganda mit Hilfe jeweils gruppenspezifisch formulierter Angebote und Versprechungen Angehörige aller Sozialschichten anzusprechen".1)

Auswirkungen der Krise in Rosenheim

Welche Folgen hatte die Weltwirtschaftskrise in Rosenheim? Die zur Berechnung der Arbeitslosigkeit benötigte Zahl der Erwerbspersonen liegt nur für Mitte Juni 1933 vor, zu diesem Zeitpunkt waren es 8927.2)Wenn man für den Zeitraum vom 1. Dezember 1929 bis zum 1. Januar 1933 die Arbeitslosenquote3) auf der Basis der Erwerbspersonen von 1933 berechnet, erhält man den richtigen Trend für die Entwicklung der Arbeitslosigkeit, muß aber berücksichtigen, daß die tatsächliche Zahl der Erwerbslosen noch höher lag. Auch handelt es sich bei den folgenden Angaben nicht um die Spitzenwerte, sondern um die durchgehend vorliegenden Erhebungen des Arbeitsamtes Rosenheim. Deutlich wird jedenfalls eine im Stadtgebiet Rosenheim langandauernde Massenarbeitslosigkeit:
1. Dezember 1929: 9,5%
1. Juni 1930: 8,9%
1. Januar 1931: 17,2%
1. Juli 1931: 12,0%
1. Januar 1932: 17,3%
1. Januar 1933: 15,9%
Doch auch wer einen Arbeitsplatz hatte, bekam die Auswirkungen der Krise zu spüren. Zwischen 1930 und 1933 sank der Jahreslohn landwirtschaftlicher Dienstboten in Rosenheim bei den Männern um 35%, bei den Frauen um 38%.4) Bei den Tagelöhnern sank das Einkommen um 28% bei den Männern und um 20% bei den Frauen. Auch bei den für Rosenheim gültigen Tarifverträgen ging zwischen dem 1. Januar 1931 und dem 31. Dezember 1932 der Stundenlohn in allen Branchen zurück. Bei den männlichen Facharbeitern in der Metallindustrie betrug die Lohnminderung in diesem Zeitraum 19,4%, die Berufsgruppen chemische Industrie und Buchbinder verdienten 20% weniger, bei den Sägewerksarbeitern waren es 32,6%, die Brauer hatten 19,4% weniger in der Lohntüte, das Baugewerbe zahlte 32,5% weniger. Bei den männlichen Hilfsarbeitern und bei den ungelernten weiblichen Arbeiterinnen bewegt sich der Lohnrückgang jeweils in der gleichen Größenordnung. Hatte Rosenheim in den Zwanziger Jahren noch von seinem hohen Beamtenanteil profitiert, so wurde die Stadt jetzt vom rigorosen Stellenabbau und von den einschneidenden Lohnkürzungen bei Staatsbeamten und Gemeindeangestellten überproportional getroffen. So mußten sich die Rosenheimer Reichsbahnarbeiter mit einem zwischen Januar 1931 und Dezember 1932 um 17,3% gesunkenen Lohn begnügen, das durchschnittliche Gehalt der Gemeindearbeiter sank in diesen zwei Jahren um 22,8%. Daß Arbeitslosigkeit und Lohnkürzungen einen massiven Kaufkraftverlust der gesamten Bevölkerung bedeuteten, den auch Handel und Gewerbe zu spüren bekamen, braucht hier nicht näher belegt zu werden.

Das Wahlverhalten in Rosenheim 1928-1933

Diese existentiell bedrohliche Wirtschaftslage führte auch in Rosenheim zu einem Wählerzulauf zu den beiden radikalen Parteien KPD und NSDAP, während SPD und BVP auf ihre überzeugte Stammwählerschaft zurückfielen.5)
Von einer weitverbreiteten katholisch - konservativen Wertorientierung und Mentalität eines guten Drittels der Rosenheimer Wähler zeugen die Ergebnisse der BVP. Seit der Reichstagswahl von 1928 (33,5%) steigerte sie sich bis zum Juli 1932 auf 38,8%, die Wahl vom 5. März 1933 bedeutete mit 32,4% dann aber ihren Tiefststand in Rosenheim seit 1919. Am wenigsten gleichmäßig bewegen sich die Stimmanteile der SPD in Rosenheim. Bei der Reichstagswahl 1928 lag sie bei 24,3%, 1930 waren es 22,1%, im Juli 1932 19,6%, im November 17,9%, am 5. März 1933 stimmten wieder 19% der Rosenheimer für die Sozialdemokraten. Die Kommunisten steigerten ihren Stimmenanteil, der im Stadtgebiet 1928 7,3% betragen hatte, auf 13,3% bei der Reichstagswahl im November 1932, als bereits verbotene Partei erzielte die KPD im März 1933 noch 7,8%. Den entscheidenden Durchbruch der NSDAP, die 1928 gerade 6% erzielt hatte, brachte die Stadtratswahl von 1929, bei der die übrigen Parteien ähnlich ihren Ergebnissen bei der Landtags- und Reichstagswahl abschnitten, während die Nationalsozialisten ihren Anteil mit jetzt 14% mehr als verdoppelten. Die Reichstagswahl 1930 (20% NSDAP) setzte diesen Trend fort, im Juli 1932 waren es bereits 25,6% der Rosenheimer, die den Versprechungen Hitlers Glauben schenkten, nach ihrem reichsweiten Stimmenverlust im November 1932 (2,3% Rückgang in Rosenheim) stimmten am 5. März 1933 36,2% für die NSDAP.

Warum wurde NSDAP gewählt?

Die Beweggründe dafür, warum man in Rosenheim sein Kreuz hinter die Liste der NSDAP setzte, sind wohl kaum weniger zahlreich und differenziert als die Wählerschaft Hitlers, sind genauso schwer auf einen Nenner zu bringen. Men-talitätsgeschichtliche Aspekte wie die emotionale Ablehnung der Republik als Staatsform, die unter dem Oberbegriff „Trauma von Versailles" zusammenzufassenden Fragen, politische Überzeugung und Idealismus sowie Kulturpessimismus, Antisemitismus, Illiberalismus und nationalistischer Sendungswahn, wie sie sich gerade auch für Rosenheim in der Rezeption von Julius Langbehns „Rembrandt als Erzieher" belegen lassen, beantworten diese wohl schwierigste Frage der deutschen Geschichte zum Teil. Eindeutiger bestimmbare Parameter für den Weg von 4349 (März 1933) Rosenheimern zu Anhängern Hitlers liefern die aufgeführten sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Daten.
Ein großes Arbeitsbeschaffungsprogramm in Verbindung mit Autobahnbau, Aufrüstung, Arbeitsdienst, Wehrpflicht und manipulierten Statistiken führte bis 1937 zur Vollbeschäftigung. Diese Entwicklung läßt heute noch viele Zeitgenossen an die vermeintlich „guten Jahre" des Dritten Reiches zurückdenken. Doch herrschte auch damals schon Krieg - der Krieg der regierenden Verbrecherclique gegen einen Teil der deutschen Bevölkerung, der wirtschaftliche Aufschwung wurde erkauft mit stagnierenden Löhnen, verschärften Arbeitsbedingungen und dem Weg in den Krieg.

Walter Leicht

Anmerkungen:

1) FALTER, Jürgen W.: Wahlen und Wählerverhalten unter besonderer Berücksichtigung des Aufstiegs der NSDAP nach 1928. In: BRACHER, Karl Dietrich, FUNKE, Manfred, JACOBSEN, Hans Adolf / Hrsg.): Die Weimarer Republik 1918 - 1933, Bonn 2. Aufl. 1988, S. 484 - 504, hier S. 496.
2) STEEGMÜLLER, Ludwig: Die wirtschaftliche Struktur des Arbeitsamtsbezirks Rosenheim. Rosenheim 1939, S. 78.
3) Unter Arbeitslosen werden hier verstanden die Empfänger von Arbeitslosenunterstützung und von Wohlfahrtsunterstützung. Die Angaben über deren Zahl verdanke ich Wolfgang STÄBLER, der sie mir aus dem Manuskript seiner Dissertation „Weltwirtschaftskrise und Provinz. Studien zum wirtschaftlichen, sozialen und politischen Wandel im östlichen Altbayern 1928 - 1933" freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat.
4) Die Angaben über die Lohnminderungen sind dem Material für meine Dissertation „Sozial-, Wirtschafts- und Wahlgeschichte Rosenheims 1869 - 1933" entnommen.
5) Die vollständigen Rosenheimer Wahlergebnisse sind zusammengestellt bei: LEICHT, Walter: Wahlen in Rosenheim 1919 - 1933. In: Rosenheim in den 20er Jahren. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Heimatmuseum Rosenheim 1986/87, hrsg. vom Kulturamt der Stadt Rosenheim, S.22-36.