Rosenheim in der Weltwirtschaftskrise

1. Wirtschaftsflaute und Arbeitslosigkeit

„Immer tiefer ins Elend hinein!" Mit diesen Worten überschrieb der Rosenheimer Anzeiger einen Bericht über die Stillegung der Schreinerei Steinbeis im Oktober 1930, bei der 60 Schreiner und eine große Zahl Hilfsarbeiter ohne Aussicht auf baldige Wiederanstellung arbeitslos wurden.1) Hatte die Wirtschaft das erste Krisenjahr noch meist mit Kurzarbeit und Teilentlassungen überbrücken können, so häuften sich jetzt die Meldungen von Konkursen und Zusammenbrüchen.2)
Hart getroffen von mangelnder Investitionsfähigkeit breiter Bevölkerungskreise wurden kleine bis mittlere Handwerksbetriebe, die in Rosenheim und im ländlichen Umland immer noch das wirtschaftliche Gesamtbild prägten. Wie gering die Aussichten etwa für das Bauhandwerk waren, den Auftragsausfall durch die ausbleibenden Neubauprojekte anderweitig etwas auszugleichen, zeigt eine Bekanntmachung des Rosenheimer Stadtrats vom 1930: Da einerseits die Mieteinnahmen durch die jahrelange Wohnungszwangswirtschaft mit den gestiegenen Lebenshaltungskosten nicht schrittgehalten, andererseits die Inflation und der neuerliche wirtschaftliche Niedergang auch manchen Eigenheimbesitzer in finanzielle Schwierigkeiten gebracht hatten, sah man sich gezwungen, für „bedürftige Hausbesitzer" zur Instandhaltung der Wohngebäude niedrig verzinsliche Darlehen anzubieten. Gedacht war hierbei nur an die Beseitigung von Schäden, die den Bestand des Gebäudes gefährdeten; „Schönheitsreparaturen" waren ausgeschlossen.3)
Ein schier ruinöser Konkurrenzkampf war Folge des akuten Auftragsmangels, der durch die Schwarzarbeit arbeitsloser Handwerksgesellen noch verschärft wurde. Da sich Gesuche um Unterstützung von seiten notleidender Handwerker und Gewerbetreibender an den Stadtrat häuften, mußte der Verwaltungssenat am 27.5.1930 auf die beschränkten Mittel der Stadt hinweisen und betonen, daß Hilfe nur im Rahmen von Arbeitsvergaben möglich sei.4) Auch der Handel und hier besonders Kleingewerbetreibende, die sich schon vor dem Einsetzen der Krise zunehmendem Druck neuentstehender Warenhäuser, Versandfirmen und Filialgeschäften ausgesetzt sahen, wurden durch die Zuspitzung der Wirtschaftsflaute stark in Mitleidenschaft gezogen. Die geringe Höhe der Unterstützungen der Arbeitslosen, gekürzte Gehälter und unaufhörlich steigende Steuerlasten für all jene, die sich glücklich schätzen konnten, noch einen Arbeitsplatz zu besitzen, sowie die drückende Absatzkrise der Landwirtschaft führten zu Konsumrückgang und Umsatzschwund. Hinzu kam der immer lauter werdende Ruf der auf Preisreduzierungen vertrösteten Arbeiter, Angestellten und Beamten, die durch die Notverordnungen erhebliche Teile ihres Einkommens verloren hatten und die jetzt die Erfüllung der von der Regierung versprochenen Verbilligungsaktionen forderten.5) Die Arbeitslosenzahl kletterte in ungeahnte Höhen: Waren am 15.9.1929 im gesamten Arbeitsamtsbezirk Rosenheim (Stadt Rosenheim, Bezirksämter Rosenheim, Aibling, Wasserburg) 1161 Menschen arbeitslos, so wurde diese Zahl am 15.1.1931 bereits allein in der Stadt Rosenheim mit 1182 übertroffen. Dazu kamen 375 langfristige Erwerbslose („Ausgesteuerte"), die von städtischer Fürsorge leben mußten; fast jeder fünfte Rosenheimer Berufstätige hatte nun seine Arbeit verloren.6)
Anfang Dezember riefen Pfarrämter, Bürgermeister, Presse, Vereine, Gewerkschaften und Verbände, die sich zu diesem Zweck zu einer Arbeitsgemeinschaft zusammengeschlossen hatten, zu einer Winterhilfsaktion auf. In Rosenheim gebe es 3000 Unterstützungsbedürftige, jeder sechste Einwohner hungere.7) Gedacht war sowohl an Geld- wie Naturalspenden. Mehrfache Presseaufrufe, Wohltätigkeitsveranstaltungen und Sammlungen hatten bis zum Abschluß der Aktion im April 1931 große Erfolge. 13.554,35 RM in bar sowie Sachleistungen im Wert von rund 20.640 RM, darunter 107 Pakete Kleider, 770 Meter Hemdenstoff und 11 Ztr. Fleisch konnten an 2652 Personen verteilt werden.8) Noch erweitert wurden die Bemühungen um die Linderung der Not der Arbeitslosen und ihrer Angehörigen im Winter 1931/32, wozu neben dem weiteren Ansteigen der Erwerbslosenzahl und der Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen auch die Furcht vor weiterer (Links-) Radikalisierung der Unterstützungsempfänger beitrug, da es die KPD verstand, sich neue Anhängerschaft durch gezielte Aktionen vor dem Arbeitsamt, Bildung von Erwerbslosenausschüssen und Eingaben an den Stadtrat zu sichern.9) Wieder wurde ein Winterhilfswerk ins Leben gerufen,10)zu dem auch der Lebensmittelhandel und der Kosumverein ihren Teil beitrugen. Für die Zeit von November 1931 bis März 1932 gab das Wohlfahrtsamt Lebensmittelmarken aus, die bei Einkäufen zu einer Rabattnahme von 10 % berechtigten. Pro Kopf und Monat an bedürftige Familien verbilligt abgegeben wurden z.B. 4 Pfd. Fleisch, 3 Pfd. Mehl oder für 5 RM Kolonialwaren; für Ledige war nur eine Vergünstigung des Brotpreises vorgesehen. Bei einer Berechtigtenzahl von 2500 bis 3300 Personen schätzte man den Wert des Preisnachlasses von seiten der Geschäftswelt auf rund 18.000 RM.11) Mit Naturalienverteilungen, Finanzbeihilfen, Schulspeisungen für 300 bis 400 Schulkinder und kostenlose Mittagssuppe für 200 Menschen unterstützte die Stadt nach einstimmigem Beschluß aller Stadtratsfraktionen die Aktion.12) Finanziell besser gestellte Familien wurden aufgerufen, einen „regelmäßigen Freitisch für arme Teufel" einzurichten.13) Auch für eine sinnvolle Beschäftigung der Erwerbslosen, möglichst mit Weiterbildung verbunden, mehrten sich jetzt die Stimmen. Das Rote Kreuz eröffnete eine Wärmestube für Frauen, in der man Näh- und Hauswirtschaftskurse veranstaltete und ein Radiogerät zur Unterhaltung diente.14)In Zusammenarbeit mit Rosenheimer Firmen startete das Arbeitsamt eine Serie von Fortbildungsangeboten, die vor allem den Arbeitslosen „die Freude am Schaffen" erhalten und ihre Wiedereingliederung in den Arbeitsprozeß erleichtern sollten. In Werkhalle und Dreherei der geschlossenen Fa. Stumbeck arbeiteten 40 Metallarbeiter an beliebigen Werkstücken, von der Grablaterne bis zur neuerfundenen riemenlosen Skibindung, in der Werkstatt der stillgelegten Schreinerei Steinbeis bauten 21 Schreiner ein Segelflugzeug, das im Frühjahr von einer „Erwerbslosenfluggruppe" tatsächlich benutzt werden konnte. Radiobasteikurse, Schreibmaschinen- und Stenounterricht für kaufmännische Kräfte und Kochkurse für Hausangestellte vervollständigten das Angebot. Auch Schach- und Musikabteilungen waren vorgesehen, auswärtigen Teilnehmern erstattete das Arbeitsamt die Fahrtkosten.15) Mit Dauer der Krise geriet auch die finanzielle Basis von Mittel- und Oberschicht ins Wanken. Das traditionell überwiegend von Kindern „besserer" Kreise besuchte Rosenheimer Gymnasium teilte am 10.5.1932 mit, daß die Eltern von 156 der insgesamt 240 Schüler Anträge auf Schulgeldbefreiung gestellt hätten; einer solchen Antragsflut könne nach den Richtlinien des Kultusministeriums nicht Rechnung getragen werden.16) Anzeichen für die jetzt zunehmende Verarmung früher relativ wohlhabender Kreise war auch der Rückgang der in Rosenheim zugelassenen Zahl von Kraftfahrzeugen, die nach einem steilen Anstieg von 379 (1924) auf 664 (1930) auf 629 (1932) absank.17)

2. Finanznot - Steuerflut

Die steigende Zahl langfristig Erwerbsloser in städtischer Fürsorge einerseits, zum anderen eine staatliche Umschichtungsaktion zugunsten der Arbeitslosenversicherung belastete die Gemeindehaushalte ab 1931 immer drastischer. Bezogen im Januar 1931 von 403.075 Arbeitslosen in Bayern 272.969 ihre Mittel von der Arbeitslosenversicherung , 73.350 von der Krisenunterstützung und 56.756 aus gemeindlicher Fürsorge, so änderte sich binnen Jahresfrist das Verhältnis rapide zu Ungunsten der Kommunen, die ab Mai 1932 die Hauptlast der anfallenden immensen Kosten zu tragen hatten. Jetzt versorgten sie von 386.680 Unterstützten 148.701, während der Krisenfürsorge 146.148 und der Arbeitslosenversicherung 91.831 zur Last fielen.18) Selbst bei Kürzungen der Wohlfahrtssätze wuchs die Belastung des Rosenheimer Stadtetats ins Uferlose. Die Fürsorgekosten stiegen von 1913 bis 1931 um 990 %, wofür die Zahl der „Ausgesteuerten" verantwortlich war:

1928: 19 Parteien mit wöchentlich 183 RM Unterstützung;
1.4.1929: 176 Parteien mit wöchentlich 1876 RM Unterstützung;
1.4.1930: 229 Parteien mit wöchentlich 2372 RM Unterstützung;
1.4.1931: 377 Parteien mit wöchentlich 3886 RM Unterstützung;
1.6.1931: 485 Parteien mit wöchentlich 4956 RM Unterstützung.19)

Trotzdem bestand man von seiten der Kreisregierung darauf, daß die Gemeinden die ihnen zugeschanzten Probleme möglichst aus eigener Kraft und bei geregelter Haushaltsführung bewältigen sollten, was auch Rosenheim bald zu spüren bekam. 1930 war es noch gelungen, durch die Erhöhung von Bier-, Getränke-und Grundsteuer sowie der Einführung einer höchst unpopulären „Bürgersteuer" die Finanzierung des Haushalts zu sichern,20)doch die Kostenlawine wuchs unaufhaltsam an. Ende August 1931 richtete die Regierung von Oberbayern die strikte Weisung an den Stadtrat, den Etat auf alle Fälle abzugleichen. Unwillen und Bestürzung riefen die Vorschläge hervor, sämtliche Zuschüsse an Vereine, Wohlfahrtsinstitute und das Holztechnikum zu streichen, auf Baumaßnahmen, die zur Ankurbelung der Wirtschaft dringend nötig gewesen wären, völlig zu verzichten, die Eintrittspreise für die städtischen Sammlungen und die Gebühren für Wasser, Gas und Strom heraufzusetzen sowie Bürger-, Getränke- und Hundesteuer zu erhöhen.21) Noch einmal konnte der Etat mit Steuererhöhungen und Landeszuschüssen abgeglichen werden, doch war der völlige Zusammenbruch der städtischen Finanzen bereits in Sicht.22)
Am 16.3.1932 beriet der Stadtrat einen Notetat, wobei Stadtkämmerer Becher einige Zahlen zu Verarmung und Gewerbenot anführte. Das Bürgersteuersoll der Stadt war für 1930 auf 70.333 RM berechnet, doch gingen nur 39.571 RM ein, da Erwerbslose, Kleinrentner und sonstige Bedürftige von der Steuer befreit wurden. Die Gewerbesteuer, die 1931 noch 150.000 RM betragen hatte, konnte für 1932 nur mehr auf 70.000 RM veranschlagt werden, ein Fehlbetrag von 100.000-200.000 RM schien unvermeidlich.23) Bereits am 6.7.1932 mußte jedoch Bürgermeister Dr. Knorr ein Defizit von 383.583 RM zur Genehmigung vorschlagen, was etwa dem Rückgang der Gemeindeeinnahmen gegenüber dem Vorjahr entsprach. Allein der Posten Wohlfahrtspflege beanspruchte mit eingeplanten 1.021.059 RM knapp ein Drittel der Gesamtausgaben. Knorr hob hervor, weitergehendere Sparmaßnahmen, als sie schon seit Jahren durchgeführt worden seien, „würden sich zur völligen Abdrosselung des Wirtschaftslebens auswachsen;" an neuerliche Erhöhungen der städtischen Gebühren und Steuern zu denken, „wäre wirtschaftlicher Wahnwitz".24) Einstimmig wurde der Etatentwurf verabschiedet, jedoch von der Regierung von Oberbayern zurückgewiesen. Mit Schreiben vom 29.8.1932 forderte man die Stadt ultimativ auf, bis 30.9. eine Abgleichung durchzuführen: „Sollte der Stadtrat innerhalb dieser Frist keine weitere Erklärung abgeben, oder sich weigern, bzw. sich außerstande erklären, die wohl unbestrittene Verpflichtung zu erfüllen, so wird die Regierung als Staatsaufsichtsbehörde die erforderlichen Anordnungen treffen."25) Da auch ein vom Stadtrat ausgearbeiteter Kompromiß zur Haushaltsdeckung ohne Erfolg blieb,26) war seine Entmachtung auf finanziellem Gebiet nur noch eine Frage der Zeit. Am 11.11.1932 verfügte die Kreisregierung, die Bürgersteuer um 200 % des Grundbetrages hinaufzusetzen und wies den Stadtrat, der damit zum Ausführungsorgan der Regierungsbeschlüsse degradiert wurde, an, „hiernach ungesäumt das Weitere zu veranlassen".27) Empörte Proteste der Stadtratsfraktionen über diesen Eingriff in die kommunale Selbstverwaltung blieben ohne Erfolg, zumal die „Bürgerliche Wirtschaftsvereinigung" bald auf Regierungskurs einschwenkte und mit ihrer Mehrheit weitere Eingaben an die Regierung abblockte.28) Die Steuerflut hatte endgültig Rosenheim überrollt.

Wolfgang Stäbler M.A.

Anmerkungen:
1) Rosenheimer Anzeiger (RA), 3.10. 1930
2) Stadtarchiv Rosenheim (StaRo) VI/P/5/39.
3) RA 14.5. 1930.
4) RA 28.5. 1930.
5) RA 15.1. 1931; 24/25.2. 1931; 31.1./1.2. 1931; 24.3. 1931; 8.5. 1931.
6) RA 17.9. 1930; 15.1. 1931.
7) RA 6./7.12. 1930; 9.12. 1930; 10.12. 1930.
8) RA 25./26.12.1931.
9) RA 17.9. 1931; 24.9.1931; 26727.9. 1931.
10) StaRo I/A/1/80-I, II.
11) RA 7.10.1931; 10711.10. 1931.
12) RA 17.9. 1931.
13) RA 18.9. 1931.
14) RA 7./8.11.1931.
15) RA 22.12. 1931; 30.9. 1932; 4.10. 1932.
16) RA 10.5. 1932.
17) RA 273.7. 1932; 15.11. 1932.
18) Zeitschr. d. Bayer. Statistischen Landesamtes 1932, 2/3, S. 328.
19) RA 25.6. 1931.
20) RA 25.9. 1930.
21) RA 31.8. 1931.
22) RA 17.9. 1931.
23) RA 17.3. 1932.
24) RA 7.7. 1932.
25) RA 5.9. 1932.
26) RA 26.9. 1932.
27) RA 12713.11. 1932.
28) RA 14.11. 1932; 16.11. 1932; 18.11.1932; 19./20.11.1932; 22.11.1932; 24.11. 1932.